Peter Riek: Körper/Erinnerungen...

Bernd Künzig

„Peter Riek: Körper.Erinnerungen.Zeichnung“

Einführungsrede beim Kunstverein Neckar-Odenwald am 24. April 2005

Das autonome künstlerische Subjekt, das aus sich selbst heraus Bildwelten erschafft, ist nicht nur eine der großen Utopien der modernen Kunstgeschichte, sondern gehört auch zu ihren Mythen, die zwar produktiv gewesen sind, denen aber nicht das Bild der Realität zu entsprechen scheint. Das künstlerische Schaffen aus dem Nichts heraus, der Farbauftrag in den leeren ungeschrieben Raum der Leinwand oder die zeichnerische Linie, die plötzlich auf dem leeren Weiß des Blattes entsteht, gehört zu den gern verbreiteten Künstlermythen. Künstler haben aber von jeher in bestimmten Kontexten gearbeitet, seien sie gesellschaftlicher, politischer, sozialer oder ästhetischer Natur – daran ändern auch die Mythen der Befreiung wenig, die die abstrakte Kunst der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts errichtet hat. Nicht zuletzt die Konzeptkunst der siebziger Jahre und ihre stetig wachsende Kontinuität in der gegenwärtigen Kunstproduktion und Ausstellungslandschaft hat diesen Mythen eine konsequente Haltung gegenübergestellt, wonach es auf die Kontexte ankommt, in denen das künstlerische Subjekt tätig ist und weniger der Beweis der künstlerischen Autonomie, die ja auch im befreiten Subjekt der Aufklärung des 18. Jahrhunderts mehr Wusch des Gedankens als Wirklichkeit war. Der Versuch, dieses autonome Subjekt zu errichten ist nicht nur in der Kunst produktiv gescheitert, sondern auch in der Geschichte, die sich nach einem gewalttätigen Jahrhundert als Katastrophengeschichte dieses angeblich freien Subjekts darbietet. Das beginnende neue Jahrtausend nährt denn auch wenig die Hoffnung auf derartige Autonomie, sondern bildet vielmehr die Sehnsucht nach Einbindung in den Kontext von Staat, familiärer Bindung, Religion und Kirche.

Die große kontinuierliche Bewegung einer Kunstgeschichte scheint somit weniger die Befreiung des künstlerischen Subjekts zu sein, sondern seine jeweilige Anbindung in Kontexte gesellschaftlicher, sozialer, politischer oder ästhetischer Art zu sein. Auch Peter Riek pflegt diese Kunst der Anbindung und speist sein vor allem zeichnerisch geprägtes Werk aus Bildentwürfen und Zusammenhängen, die er anderen Kontexten entnommen hat. Wer die Zeichnungen nur kurz in Augenschein genommen hat, kann unschwer erkennen, aus welchen Bildmaterialien die künstlerische Erfindung sich hier speist. Zumeist greift der Künstler auf Bildvorlagen wissenschaftlicher Illustrationen zurück, mit denen unser Bild von Natur und dem Organischen in Anatomiebüchern, medizinischen Fachwerken oder Biologie-Schulbüchern anschaulich gemacht werden kann. Wenn wir einmal davon ausgehen, dass das Bild des Menschen und der Natur gezeichnet werden kann, dann handelt es sich hierbei um eine Zeichnung in mehrdeutiger Hinsicht. Hier ist nicht nur einfach der Vorgang eines mit Stift, Kreide, Kohle, Farbe und Pinsel hergestellten Bildentwurfs gemeint, in dem die Linie dominiert, sondern vielmehr auch der Vorgang der Kennzeichnung, also der Einordnung und Systematisierung, aber auch jener der symbolischen Zeichnung, wie sie schon als biblisches Zeichen im Kains-Mal zum Tragen kommt. Wenn unser Bild von Wirklichkeit heute verstärkt von wissenschaftlichen Kenntnissen geprägt wird und die oft hochkomplexen Vorgänge naturwissenschaftlicher Forschung sich in mehr oder weniger anschaulichem Bilderdenken niederschlägt, so handelt es sich dabei auch um eine Zeichnung im Sinne dieses bedenkenswerten Mals: so unterstehen wir alle dem Bild des Gezeichneten, der von seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen und deren Grenzen bestimmt wird.

Zeichnung heißt aber auch Spuren hinterlassen, Bildzeichen zu hinterlegen in Zusammenhängen, die oft nicht in unmittelbarer Verbindung zu dieser Art der Einzeichnung stehen. Peter Riek verdeutlicht dies in seinen Straßenzeichnungen, die er auf seinen Wanderungen, Reisen, also seinen Bewegungen durch den geografischen Raum mit vergänglicher Kreide anfertigt, die vom nächsten Regen weggespült und wie auf einer Tafel wieder ausgelöscht wird, und die er mit dem Fotoapparat festhält. Von diesen Zeichnungen, die oft Abbild unserer naturwissenschaftlichen Illustration der Welt sind, bleibt nicht das Original zurück, sondern erneut dessen scheinbar wissenschaftlich fotografisches Dokument, das Zeugnis von einem zeichnerischen Vorgang gibt, bei dessen Urhebersuche uns Betrachtern nicht ganz geheuer sein kann. So tritt Peter Riek in diesem Zusammenhang als Spurensucher, Forscher und Sammler auf, der seine eigene anarchistische Zeichentätigkeit wie Bilde einer Naturgeschichte zu erforschen und zu dokumentieren scheint.

In derartiger Komplexität präsentiert der Künstler nun auch sein auf Papier und anderen unterschiedlichen Trägermaterialien entstandenes zeichnerisches Werk, das in den jeweiligen Ausstellungssituationen kontextualisiert und in eine Konzeption überführt wird, bei dem die einzelne Arbeit nicht unmittelbar entscheidend ist, sondern der Zusammenhang, den es in der Summierung, Anordung und Systematisierung entfaltet. Am Naheliegendsten scheint dabei der Ausstellungsort zu sein. Für den Raum eines ehemaligen Schlachthauses wählt Peter Riek denn auch konsequent Zeichnungen von Knochen und organischen Bildentwürfen aus. Es handelt sich um Zeichnungen, die buchstäblich unter die Haut gehen, das Innere nach Außen kehren und es einem Verwertungszusammenhang unterziehen, bei dem das im Mittelpunkt steht, was im Schlachthaus als Abfallprodukt übrigbleibt: die Knochen. Dabei handelt es sich um eine Todesgeschichte. Wie in einem Altarschrein steht das Knochengerüt eines Pferdeskeletts, als sei der Abdecker gerade noch am Werk gewesen, im Zentrum eines Zusammenhangs, dem sich die Zeichnungen in unterschiedlichen Formatgrößen beigesellen. Dabei wird Zusammenhang und Systematik einerseits heraufbeschworen und andererseits auch unterlaufen. Der Schrein evoziert das Bild der Museumsvitrine, deren merkwürdige Zusammenstellung jedoch dem Bild eines ausgestellten Bildes des modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu widersprechen scheint. Vielmehr wird hier erneut das Bild der manieristischen und barocken Wunderkammer heraufbeschworen, wie sie im 16. und 17. Jahrhundert an den feudalen und frühbürgerlichen Orten beliebt war und den ganzen Sammlerstolz in wissenschaftlicher und künstlerischer Hinsicht demonstrieren sollte. In der Wunderkammer, dem archaisch-feudalen Vorläufer unserer aufgeklärten, rationalisierten Museumslandschaften, manifestierte sich nicht der Eifer des Sammelns in der Sytematik, sondern im chaotisch kreativen Beieinander von Künstlichem, ästhetisch Raffinierten, von Fossilem und Naturwissenschaftlichem mit dem Kuriosen und Vergänglichen, an dessen Ende im Sinne des barocken Vanitasgedankens Tod und Verderben am Ende der Zeiten steht.

Eine Wunderkammer in modernen, postmodernen oder neomodernen Zeiten errichtet sich auch Peter Riek mit seiner Installation, in die er seine Zeichnungen einfügt. In mehrfacher Hinsicht spielt er damit mit der Lust am Vergänglichen und dem Ende der Dinge und der Zeiten. „Pale rider“, der Titel dieses installativen Gefüges, verleiht diesem seltsamen Beieinander von künstlerischer Handschrift und Pferdeskelett eine ganz eigene Bedeutungsebene. Einerseits handelt es sich bei dem  Pferdeskelett um ein anatomisches, naturwissenschaftliches Anschauungsobjekt, das Studiengegenstand und Ausgangspunkt der zeichnerischen Arbeiten sein kann, von dem es umstellt und eingekreist, somit eingeordnet und systematisiert wird. Andererseits ist es symbolisch gelesen ein Zeichen des Todes. „Pale rider“ – Titel eines Spätwesterns, den der grandiose Schauspieler und Regisseur Clint Eastwood sich auf den Leib geschrieben hat – meint auch den bleichen Reiter der Apokalypse, der das Ende der Zeiten einläutet und im jüngsten Gericht Rache nimmt, wie es Clint Eastwood auf seinem fahlen Schimmelpferd als Rächer der entrechteten und verarmten Goldschürfer in seinem filmischen Oeuvre ist. Aber nicht nur die christliche Geschichte weiß von der Magie der Pferde zu berichten. In der Antike war das trojanische Pferd jene teuflische List des Odysseus, der zum Untergang einer stolzen Stadt führte und für die der griechische Held mit einer zwölfjährigen Irrfahrt bestraft wurde. Wir können uns gut vorstellen, wir er dabei an all jenen mediterranen Orten, die er dabei zum ersten mal betrat, eine Kreidezeichnung anfertigte, von der er ein fotografisches Souvenir seiner zu Hause wartenden Penelope mitbrachte. Von anderer symbolgeladener Kraft ist das Pferd innerhalb der Ikonografie der kunstgeschichtlichen Entwicklung. Pferde sind Stolz und Vergänglichkeit in einem in all jenen großen Schlachtengemälden des feudalen Zeitalters, in denen Reiterarmeen siegen und untergehen, beginnend etwa mit Paolo Uccellos Renaissancegemälde der „Schlacht von San Romano“ aus dem Jahr 1456. Noch Theodore Gericault war als Historienmaler und passionierter Pferdemaler des 19. Jahrhunderts von den Rennbahnen besessen.

Der militärische Stolz der Reiterarmee ist schließlich im vergangenen Jahrhundert der Katastrophen endgültig untergegangen: einst der Stolz der polnischen Nation, ist die letzte Reiterarmee Europas von den deutschen Panzern im Ausbruch des zweiten Weltkriegs 1939 vernichtet worden. Wie in Peter Rieks Installation, in der zwei Welten aufeinandertreffen, nämlich die der modernen Zeichnung und Installation mit der Idee der feudalen Wunderkammer, so sind im September 1939 eine Kriegsführung der modernen Industrie auf Seiten des deutschen Faschismus mit einem Nationalstolz aus feudaler Herrlichkeit, der sich in der Reiterarmee manifestierte, aufeinandergeprallt. Die sterbenden Pferde in Andrzej Wajdas „Lotna“, der Verfilmung dieses Ereignisses, sind zum Ausdrucksbild der Vergänglichkeit der Zeiten geworden, wie auch in Andrej Tarkowskijs filmischen Kriegsgemälden „Iwans Kindheit“ und „Andrej Rubljow“ oder in Akira Kurosawas „Kagemusha“, in der ebenfalls eine Reiterarmee eines rückständigen, feudalen japanischen Herrscherhauses von der mit europäischen Feuerwaffen aufgerüsteten Artillerie seines Gegners niedergemacht wird.

Das Pferd als Bild von Macht, Stolz und Freiheit ist im zwanzigsten Jahrhundert aus der Malerei in den Western abgewandert. Dort war und ist es Symbol des freien Subjekts, das sich Natur und Landschaft erorbert. Es ist Symbol eines modernen Gründungsmythos der amerikanischen Nation, der als Bildgewalt global geworden ist, obwohl er in Clint Eastwoods „Pale rider“ bereits ein Ritt mit dem Tod geworden ist. Als Bild ist die symbolische Verkörperung des Pferdes noch immer stark, wenngleich der mächtigste Mann der Welt nur ein Freizeitreiter ist, zum Kriegseinsatz lässt er sich lieber mit einem Düsenjet auf einen Flugzeugträger einfliegen, jener Fortsetzung des durch die Luft stiebenden apokalyptischen Reiters.

Diese gewaltige Geschichte von Bildern, in denen Pferde zu symbolischer Bildmächtigkeit und –größe gelangen, beschwört Peter Riek in seiner Installation herauf, in dem er wie in einer barocken Wunderkammer Naturwissenschaftliches und Ästhetisches zusammenbindet, es aber im modernen Geist der optischen Prächtigkeit entkleidet, buchstäblich die Haut abzieht und das anatomische Objekt, aber auch die Zeichnung skelettiert. Denn auch die Arbeit mit Stift, Kohle und Pinsel bietet ein Bild der skelettierten Zeichnung, die unter ihre Haut, unter ihre Oberfläche dringt und wie in einer wissenschaftlichen Forschung zeigen will, was Zeichnung im Kern zu bedeuten hat. Dass diese Wunderkammer der Zeichnung von Glühbirnen beleuchtet wird, betont, dass wir im Zeitalter der modernen, elektrifizierten Be- und Erleuchtung angelangt sind, bei dem die Bilder ihrer Pracht entkleidet werden. Sie leuchten nicht mehr aus sich selbst, sondern werden erhellt. Brillanz erzeugt sich nicht mehr in der symbolisch aufgeladenen Oberfläche der Zeichnung, sondern in der Reflexion ihrer Bildgeschichte. Insofern ist auch Peter Riek einer jener gezeichneten Künstler, dem die Bilder schwierig geworden sind. Künstlerische Größe bestand aber schon immer darin, Schwierigkeiten zu Grundlagen der kreativen Schöpfung werden zu lassen.

Zum Ausstellungskalender

 

 

[Home] [Der Verein] [Ausstellungen] [Ausstellungsorte] [Galerie] [Szene] [Pressearchiv] [Kultur - Café] [Gästebuch] [Kontakt] [Sitemap] [Anfahrt] [Impressum]